Topos 1980


Einmal hatte ich mir im Sportunterricht das Außenband gerissen. Damals blieb man dafür zwei Wochen – operiert und eingegipst – im Krankenhaus liegen. Ich hatte ständig Besuch. Meine Freunde saßen ums Bett herum und erzählten von draußen. Wenn wir zu laut wurden, mussten wir in den Besucherraum oder auf die große Terrasse zum Rauchen. Nur freitags kam keiner. Da waren alle im topos. Am ersten Freitag meines zweiwöchigen Krankenhausaufenthalts brauchte ich noch Krücken, um die paar Meter vom Sankt-Josef-Krankenhaus rüber zu den anderen zu humpeln. Am zweiten konnte ich mit dem Gips schon auftreten. Auf der kleinen Bühne im topos drängten sich Musiker bei einer Blues-Session.

Klaus, Carolin, mein Bruder, Hase. Wer war noch dabei? Heinz Henning, Günther, Michaela? Wir saßen wie immer, wenn man reinkommt, vorne links, auf diesen cremeweißen, kurvigen Kunststoffbänken, die sich futuristisch an den schwarzen, mit Konzertplakaten zugeklebten Wänden entlangschlängelten, als hätte jemand eine Riesentube Bauschaum in den Raum gedrückt. Wir lasen Die Pest, Die schmutzigen Hände, Ein fliehendes Pferd, Häutungen, diskutierten übers Gelesene, über Musik, hockten an den runden Tischen, die an Stangen befestigt waren, die vom Boden bis zur Decke reichten.

Wir waren 16, 17, 18 Jahre alt und hörten Jazz. Jasper van't Hof, Anne Haigis, John Scofield, Andreas Vollenweider, Billy Cobham, Charlie Mariano, John Hiseman, Volker Kriegel, Klaus Doldinger, Albert Mangelsdorf, Chick Corea, Keith Jarrett ...
Nach den Konzerten auf den Leverkusener Jazztagen im FORUM kamen viele der Musiker zu Wolfgang und Ingrid an die Theke. Dann war Welt in Leverkusen und das topos ihre Mitte.

Wenn Ingrid das nächste Bier brachte, hob sie die Gläser mit einer Hand vom abgestellten Tablett, mit der anderen schob sie sich die glatten blonden Haare hinters Ohr. Die Altbierbowle schmeckte malzig, die Erdbeeren darin waren vom Alkohol ganz ausgeschwemmt, farblos, weich im Mund. Ich zerdrückte sie mit der Zunge am Gaumen, spürte das Hineingeworfensein mit jedem Zug aus der selbstgedrehten Zigarette.

Drum Halfzware. Gizeh-Blättchen. Das grüne „nur noch 10 übrig“-Blättchen konnte fliegen, wenn man es an der richtigen Stelle in Brand steckte.

Im Netz finde ich Artikel aus dem Leverkusener Anzeiger, zwischen 2019 und 2021 erschienen. Ich klicke, ich lese, ich erfahre, dass der Hausbesitzer das Gebäude in Wiesdorf abreißen will, in dem Wolfgang Orth das topos 1969 eröffnete, die Jazzkneipe, die 1980 schon längst Kult war. Auf dem Schwarzweißfoto sieht Wolfgang noch aus wie er selbst. Vor zwei Jahren, mit 73, ist er also gestorben. Seitdem führt Ingrid die Kneipe.

Der Abriss wäre das Aus fürs topos, heißt es in der Zeitung.
Die Stadt will das Haus kaufen und das topos retten.
Jetzt will der Hausbesitzer über eine Million Euro für das kleine Gebäude.

Auf dem nächsten Zeitungsfoto erkenne ich Ingrid, obwohl sie zur Seite schaut. In der einen Hand trägt sie ein rundes rotes Tablett; mit der anderen legt sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr.